Der Junge im gestreiften Pyjama

John Boyne, Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2009

Rezension (Jüdische Allgemeine Wochenzeitung 2007):

Das Buch liest sich von selbst und lässt sich nicht zur Seite legen. Es provoziert, polarisiert und trifft. Welweit zeigen sich Kritiker euphorisch, einige äußerten Bedanken.

„Der Junge im gestreiften Pyjama“ erschien zum ersten Mal 2006 in Irland. Seinem Autor, John Boyne aus Dublin und Mitte 30, brachte es den internationalen Durchbruch. Über vielen Wochen stand es auf Nummer 1 der Bestsellerlisten von Irland, Australien und England, in über 20 Sprachen wurde es Übersetzt. In der New York Times rangierte es auf Platz 5, Preise folgten, an einem Film wird gearbeitet. Vorsicht ist also geboten.

Auf den ersten Blick scheint „Der Junge im gestreiften Pyjama“ zur so genannten „Holocaust-Literatur zu gehören. Sein Umschlag, überzogen mit breiten Querstreifen, weiß-hellblau, legt es nahe. Eindeutige Assoziationen sind beabsichtigt (und in der U-Bahn ein Blickfang) und finden sich bestätigt im Inhalt: Bruno, 9 Jahre alt, zieht mit Vtaer, Mutter, nervender älterer Schwester Gretel vom schönen Berlin nach Auschwitz. Hitler persöhnlich war vorbeigekommen und hat den Vater zum Auschwitz-Kommandanten befördert, ein Aufstieg auf der Karriereleiter. Für Bruno beginnt in Auschwitz eine Zeit der Tristesse, Langeweile und bedrohlicher Rätselhaftigkeit, weit weg von Großeltern und Freunden. Von seinem Fenster aus im neuen, funktionalen Haus sieht er Menschen hinter einem Zaun. Sie wirken alles anderes als glücklich. Aber wer kann schon glücklich sein in Auschwitz? Bruno beginnt heimlich umherzustreifen. Geht den Zaun entlang, freundet sich mit dem gleichaltrigen Schmuel auf der anderen seite an. Beim letzten Besuch – die Mutter will entnervt mit den Kindern nach Berlin zurück – schlüpft Bruno unterm Zaun durch. Er zieht sich den gestreiften „Pyjama“ über, den ihm Schmuel mitgebracht hat, will diesem helfen, seinen Vater wieder zu finden. Dabei gerät Bruno in eien von Soldaten zusammen getriebene Menschenmenge. Er stirbt mit ihr in der Gaskammer.

Alles in klare Worte gefasst und alles falsch. Bruno zieht nicht um nach Auschwitz, sondern nach „Aus-Wisch“, nicht Hitler beförderte seinen Vater, sondern der „Furor“. Kleine Differenzen sind es die am klarsten trennen und am schärfsten unterscheiden. John Boynes Buch ist an keiner Stelle angelegt, die Wirklichkeit des Dritten Reiches widerzuspiegeln. Es spielt in einer Kunstwelt. Jeder Hinweis aus historische Fehler oder Ungenauigkeiten greift daher nicht.Wer dem mächtigen Assoziationszwang der Geschichte widersteht, wer der unglaublichen Naivität eines 9-jährigen Brunos zu folgen bereit und fähig ist (ein Kraftakt, der von einem Leser ab 12 erwartet werden kann), der könnte in einen verloren geglaubten Urzustand der Unmittelbarkeit, der Absurdität ideologischen Wahns. Bruno legt sie bloß. Er lässt sich nicht die Augen öffnen, denn das hieße verstehen, was nicht zu verstehen ist.

Das Buch stellt nicht zum x-ten Mal die Schulbuchfrage „wie konnte so etwas geschehen?“. Es zeigt, mit was zu rechnen ist, wenn Menschen nicht mehr sagen dürfen, was ihnen durch den Kopf geht – ein Indikator höchster Stufe. „Ich darf nicht sagen, was ich denke?“, fragt Bruno schon im vorderen Drittel des Buches. „Nein“, antwortet sein Kindermädchen Maria. Bruno kann das weder glauben, noch verstehen. Sein Ende und das des Buches sind damit Frühzeitig festgelget. Das Leben hat eien unheilbaren Knacks bekommen. Es ist eine Lüge. Erst als der Junge in den Tod geht, als er am Zaum seine Kleider und die Seite wechselt, um Barfuß und im „gestreifeten Pyjama“ weiterzulaufen, kehrt die unmittelbare kraft des empfindens als körperlich spürbare realität zurück. „Er versank bis zu den Knöcheln und jedes Mal,wenn er einen Fuß hob, wurde es schlimmer. Mit der Zeit jedoch gefiel es ihm zunehmend besser. Schmuel griff nach unten und hob das Zaunende hoch, doch es ließ sich nur bis zu einem Punkt heben, sodass Bruno nichts anderes übrig blieb, als sich unten durchzuwälzen und seinen gestreiften Anzugvöllig mit Schlamm zu beschmutzen. Er musste lachen, als er an sich hinabblickt. So dreckig war er in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen, aber es fühlte sich herrlich an.“
Das Buch bricht den Begriff der „Holocaust-Literatur“ auf. Fiktionalität erfährt eine Steigerung, in dem sie wie reproduziert wirkt, wie nachgespielt, die Realität verfremdend, an einem künstlichen Ort, mit wenigen Requisiten. Eine Geschichte von der Wirklichkeit gelöst, besitzt keinen historischen Kontext. Sie ist reduziert auf sich selbst, kann ein Lehrstück sein, eine Fabel wie John Boyne seinen Text ankündigt.

„Aus-Wisch“ ist nicht Auschwitz, sondern ein Ort, der zwischen zwei Buchdeckel passt.

Katrin Diehl (2006)

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